Tages Anzeiger: Musik in der Pandemie

Danke an Susanne Kübler vom Tagesanzeiger für das Interview und den Artikel!

Musiker in der Corona-Krise: Wenn 4000 Franken Lohn als Luxus gelten

Das Geld ist knapp, der Alltag kompliziert, doch die selbstständigen Musikerinnen und Musiker kamen bislang einigermassen gut durch die Pandemie. Das könnte sich bald ändern.

Susanne Kübler

«Viele werden aussteigen müssen»: Wenn von Kultur die Rede ist, zieht sich dieser Satz wie ein Refrain durch die Monate der Pandemie. Besonders oft fällt er, wenn es um selbstständige Musikerinnen und Musiker geht. Also um jene, die über Monate keine Auftrittsmöglichkeiten hatten, dazu keine Institution im Rücken – und in den allermeisten Fällen auch kein besonders dickes finanzielles Polster.

Die Zahlen scheinen die Befürchtungen zu bestätigen: Für das erste Corona-Jahr 2020 reduzierte sich laut Bundesamt für Kultur die Zahl der Kulturschaffenden um 4,7 Prozent respektive knapp 15’000 Personen; das sind viele, nur in der Gastronomie zeigte die Kurve ähnlich steil nach unten. In welchen Bereichen sie tätig waren, wird nicht aufgeschlüsselt, aber es ist klar, dass auch Musikerinnen und Musiker dabei sind. Nick Werren vom Berufsverband Sonart jedenfalls sagt, sie hätten «schon einige Abmeldungen gehabt».

Aber seltsam: Bei Sondierungen in der Szene hört man keine dramatischen Aussteigergeschichten. Stattdessen erntet man Kopfschütteln – nein, wir kennen niemanden, der wirklich wegen Corona kapituliert hat. Nicht im Pop, nicht im Jazz, nicht in der Klassik. Wer aufhöre, tue das aus anderen Gründen: Weil Aufwand und Ertrag noch nie zusammengepasst haben in diesem Job. Und weil die Pandemie für viele eine Gelegenheit war, ihre Lebensentwürfe grundsätzlich zu überdenken.

Nick Werren ist sich da nicht so sicher, «die Grenze zwischen aufhören wollen und aufhören müssen ist schmal». Aber auch er bestätigt, dass viele Musikerinnen und Musiker zumindest bisher nicht schlecht durch die Pandemie gekommen seien. Die Kombination von Ausfallentschädigungen und Nothilfe hätte weit rascher gegriffen als etwa bei den Roadies und Technikern hinter der Bühne, die anfangs durch alle Maschen fielen und sich so zahlreich umorientierten, dass man in diesem Bereich bereits einen Fachkräftemangel befürchtet. Zudem hatten die meisten Musiker schon immer einen Nebenjob, «in der Schweiz leben nur ganz wenige ausschliesslich von Auftritten».

Alles halb so schlimm also? Ist die musikalische Realität besser als die Statistik? Sicher ist: Sie ist komplizierter.

Der Alltag

Wie kompliziert, das erlebt zum Beispiel die 37-jährige Mezzosopranistin Christina Daletska. Sie sitzt in Cagliari vor der Bildschirmkamera, als wir sie erreichen. Zwei Konzerte hätte sie auf Sardinien singen sollen, eines wurde kurzfristig abgesagt. Das bedeutet: Sie bezahlt die ganzen Reisespesen, erhält aber nur das halbe Honorar.

Aber so ist das jetzt, nicht nur für sie, nicht nur in der Klassik. Konzerte werden abgesagt und verschoben, neu geplant, umbesetzt, nochmal verschoben. Daletska schreibt sich Einspringertermine in den Kalender, weil irgendwo eine Sängerin positiv getestet wurde, und streicht sie nach getaner Vorbereitung wieder, weil auch der Rest der Belegschaft erkrankt ist. «Ich bin seit Beginn der Pandemie hauptsächlich damit beschäftigt, meine Agenda umzuplanen», sagt sie.

Selbst jetzt, wo dank 2-G-Regel und Maskenpflicht volle Säle erlaubt wären, machen verschiedene Ängste den Musikern einen Strich durch die Rechnung. Das Publikum zögert, und vor allem kleinere Veranstalter sagen ein Konzert lieber ab, als dass sie leere Reihen riskieren.

Nach einer Phase der Lähmung ist der Konzertbetrieb also in einer Phase der Unsicherheit angekommen. Da braucht es schon eine gute Mischung aus Galgenhumor und positiver Energie, um – wie derzeit Daletska – ein kompliziertes zeitgenössisches Werk in baskischer Sprache zu lernen, dessen Uraufführung dann vielleicht doch nicht stattfindet. Im besten Fall, sagt sie, verdiene sie etwas damit, «im schlechtesten habe ich wenigstens etwas für die Alzheimer-Prävention gemacht».

Das Geld

Immerhin: In finanzieller Hinsicht hat sich die anfängliche Unsicherheit für viele gelegt. Die Unterstützung durch Bund und Kantone, die notgedrungen als Hauruckübung begonnen hatte, funktioniert inzwischen «sicher zuverlässiger als in anderen Ländern»: So formuliert es der 27-jährige Jazzpianist Max Petersen am Telefon.

David «Dabu» Bucher, Frontmann von Dabu Fantastic, geht noch weiter, wenn er im Gespräch von Kollegen erzählt, denen es sogar besser gehe als früher: «Wer immer auf der Kippe war, ob es reicht zum Leben oder nicht, der ist froh um regelmässige Beiträge, selbst wenn sie tief sind.»

Und tief sind sie, niemand wird reich mit den Erwerbsersatz- und Ausfallentschädigungen, die aufgrund der Einnahmen im Jahr 2019 berechnet (und allenfalls durch Nothilfe über Suisseculture Sociale ergänzt) werden. Anders als etwa beim Militär, wo ein Mindest-Tagesansatz von 62 Franken gilt, gibt es bei den Musikern keine untere Grenze; der tiefste Betrag, der in der Szene genannt wird, belief sich auf 3 Franken – pro Monat.

Selbst Dabu Bucher, mittlerweile 42 und seit Jahren einer der erfolgreichsten Schweizer Popmusiker, erhielt in der Krise maximal 49 Franken Taggeld. Im Durchschnitt kamen für ihn in den letzten Monaten mit den staatlichen Beiträgen, den Einnahmen von doch wieder möglichen Auftritten und den Suisa-Beiträgen für Radioübertragungen knapp 4000 Franken monatlich zusammen. In der Szene gilt das als luxuriös.

«Wir leben alle nicht auf grossem Fuss», sagt er dazu, und: Musiker seien nun mal Improvisationskünstler, «auf und neben der Bühne». Es spreche sowohl für den Beruf als auch für das System in der Schweiz, dass man sich durch eine solche Krise hangeln kann – «wenn man das wirklich will».

Die grosse Frage

Der Nachsatz ist wichtig. Denn die Frage, ob man wirklich Musiker, Musikerin sein will: Die stellte sich für die meisten in den vergangenen Monaten, die den kulturellen Alltag so grundsätzlich erschütterten.

Für Dabu Bucher war die Antwort klar: «Das Schreiben von Mundartsongs ist meine Berufung, ich will das noch viel mehr als vorher.» Im ersten Lockdown hat er 65 Songs geschrieben, «viel Schrott, aber manches haben wir weiterentwickelt». Das neue Album kommt im März heraus, und die Tournee wird – anders als die letzte brüsk gestoppte – stattfinden, egal mit welchen Einschränkungen: Davon ist er überzeugt.

Yves Zogg, seit 2011 der Pianist von Dabu Fantastic, wird dann allerdings nicht mehr dabei sein. Er ist abgesprungen, «nicht weil es finanziell nicht mehr ging. Er hat einfach gemerkt, dass ihn anderes mehr interessiert als das Keyboard», sagt Bucher.

Berufung hier, Berufswechsel da – und dazwischen ist alles möglich. Manche haben sich einen Nebenjob gesucht oder einen, den sie bereits hatten, ausgebaut. Zu ihnen gehört Jazzpianist Max Petersen: «Ich habe schon immer unterrichtet, wie die meisten meiner Kollegen; von Jazzauftritten allein kann man selbst in normalen Zeiten nicht leben. Jetzt unterrichte ich einfach noch mehr als vorher.» Ausserdem hat er eine Stelle an einem Gymnasium angenommen, einen Tag pro Woche unterrichtet er in Wettingen. Eine Pandemieentwicklung? «Vielleicht. Aber wenn, dann eine erfreuliche.»

Christina Daletska hat ihre Tätigkeiten dagegen in ganz andere Bereiche erweitert. Sie hat sich noch nie nur als Sängerin verstanden, schon seit langem engagiert sie sich für Amnesty International. Gleich zu Beginn der Pandemie hat sie ein Flugticket nach Griechenland gebucht, um dort in Flüchtlingscamps zu helfen; der Lockdown kam dazwischen.

So hat sie in der Schweiz Freiwilligenarbeit geleistet, hat für den Sozialdienst des Kantons Aargau Flüchtlinge bei der Wohnungssuche unterstützt, älteren Menschen das Smartphone erklärt – und sich privat mit Quantenphysik befasst: «Das hat mich schon immer interessiert. Und es hatte auch etwas Tröstliches, zu verstehen, dass vieles nicht so ist, wie es scheint.»

Was bleibt?

Dass nach Corona alles wieder wird wie früher: Davon geht niemand aus. Christina Daletska sieht sich für die nächsten 20 Jahre weiterhin umplanen, «mittlerweile werden schon für 2024 angesetzte Auftritte verschoben, das kann ja nichts mit Corona zu tun haben – es hat sich etwas in den Köpfen geändert.» Und sie kann sich gut vorstellen, die humanitäre Arbeit irgendwann zum (Zweit-)Beruf zu machen: «Im Alter darauf zurückzublicken, dass ich vor 40 Jahren mal schöne Konzerte gesungen habe – das wäre mir zu wenig.»

Dabu Bucher dagegen plant eher innere als äussere Veränderungen. Er hat sich keine Sekunde überlegt, wieder in seinen ursprünglichen Beruf als Sekundarlehrer zurückzukehren, «ich brauche diese Sicherheit nicht». Aber er wird versuchen, das Musikerleben ruhiger anzugehen: «Vorher war das ein Zug, der einfach gefahren ist. Und ich war mir gar nicht bewusst, welchem Druck ich mich da aussetze. All diese Spotify-Zahlen, die man in Echtzeit verfolgen kann – das will ich ja gar nicht.»

Auch Max Petersen spricht auf die Frage nach der Zukunft vom Computer: «Die Pandemie hat einen Riesenumschwung ins Netz gebracht.» Das unkomplizierte Arbeiten mit Musikern auf der ganzen Welt, auch die Solidarisierung zwischen den Szenen hat er als positive Folgen davon erlebt. «Aber dass die sozialen Medien die Formate so sehr prägen – kurze Schnipsel und polarisierende Inhalte funktionieren, lange Streams kann man vergessen – das sehe ich negativ.»

Er hofft deshalb auf Gegenreaktionen in der analogen Welt. Darauf, dass sich die Institutionen und die selbstständigen Musiker verbünden, sich gemeinsam für die Kultur und gegen die gesellschaftliche Zersplitterung engagieren: «Das Konzept, dass jeder sein eigenes Ding macht – das ist aus meiner Sicht gelaufen.»

Und die Statistik? Die wird die tatsächlichen Folgen der Pandemie für die Musikszene erst in ein paar Jahren ausweisen. Denn selbst wenn Corona in absehbarer Zeit für überwunden erklärt werden sollte: Bis sich der Konzertbetrieb normalisiert, bis der Stau der Verschiebungen sich auflöst und das Publikum sich wieder in die Säle getraut, wird es nach Einschätzung von Sonart-Projektleiter Nick Werren zwei bis drei Jahre dauern. Jahre, in denen es keine behördlichen Vorsichtsmassnahmen und deshalb auch keine Entschädigungen mehr geben wird. Wie viele sich dann noch durchhangeln können oder wollen: Das weiss derzeit niemand.

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